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7 Herausforderungen für biologische Lebensmittel

Wie geht es nach dem Bio-Boom weiter? Vor welchen Herausforderungen stehen die Produzent*innen biologischer Lebensmittel? Hanni Rützler im Foodreport 2024.

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Jahrzehntelang hat Bio die Debatte zur Lebensmittelqualität angeführt und war damit ein bedeutender Innovator im gesamten Food-Sektor. Diese Entwicklungsarbeit hat vielfältige Früchte getragen. Aus einer Nische heraus haben Bio-Produkte weltweit Erfolgsgeschichte geschrieben. In Europa bahnten sie sich ihren Weg aus den kleinen Natur- und Reformkostläden bis in die großen Supermärkte. Umwelt- und Klimaschutz, Ökologie und Tierwohl sind zu gesellschaftlich bedeutsamen Themen geworden. Und auch wenn der Anteil an biologisch bewirtschafteten Landwirtschaftsflächen und an biologischen Lebensmitteln weiterhin vergleichsweise gering ist: Im Bewusstsein der meisten Menschen hat Bio einen hohen Stellenwert. Biologischer Landbau, biologische Viehzucht und nach Bio-Maßgaben erzeugte Lebensmittel schienen bislang die richtigen Lösungen für die Probleme der Zeit zu sein.

Wie aber geht es weiter? Wohin will, soll und kann sich Bio entwickeln? Was sind die neuen Ziele? Welchen Herausforderungen will bzw. muss sich Bio in den nächsten Jahren und Jahrzehnten stellen? Welche (neuen) Themen wollen aufgegriffen werden? Oder geht es vor allem darum, Erreichtes zu verteidigen? Schließlich haben sich die Prioritäten beim bewussten Konsum in den letzten Jahren tendenziell verschoben. Es gibt Kriterien, die heute vielen noch wichtiger erscheinen als die biologische Erzeugung. Sie lauten: natürlich, vegan oder vegetarisch, regional, nachhaltig. Und nun erwächst Bio auch noch Konkurrenz im eigenen Hause – in Form der Regenerativen Landwirtschaft. Auf die Branche warten Herausforderungen an mindestens sieben Fronten.

1. Vegan Challenge – Bio vs. pflanzliche Ernährung

Veganmania ist ein aufkommender Food-Trend, der die biologische Landwirtschaft mit dem Schwerpunkt auf tierfreier Kost in Frage stellt. Vegane Ernährung steht nicht nur für ethische Prinzipien, sondern auch für Klimaschutz, da Viehzucht und Milchwirtschaft sowohl mit Tierleid als auch mit erheblichen Treibhausgasemissionen verbunden sind. Dabei gerät ein wesentlicher Aspekt der biologischen Landwirtschaft – die integrierte Bewirtschaftung von Höfen mit Pflanzen und Tieren – in die Kritik.

Einige in der Bio-Branche sind jedoch gegen pflanzenbasierte Nahrung, insbesondere industriell hergestellte Ersatzprodukte, die als unnatürlich angesehen und daher abgelehnt werden. Trotz vorhandener veganer Alternativprodukte in Bio-Qualität dominieren konventionelle Produkte in den Supermärkten. Die Bio-Branche hat zu langsam auf diesen Trend reagiert, was Josef Brunnbauer, Geschäftsführer von Biokreis, als ein Versäumnis anerkennt: „Wenn wir Bio und pflanzlich nicht zusammen denken, wird sich die Vegan-Branche in eine Richtung bewegen, in der wir sie nicht haben wollen.“

2. Planetary Health Challenge – Bio vs. Ernährungssicherheit

Die Planetary Health Diet wurde ausgehend von den USA auf den Weg gebracht und 2019 erstmals auch auf Deutsch veröffentlicht. Das Konzept setzt die persönliche Gesundheit eng mit der planetaren Gesundheit in Beziehung. Es wird damit zu einem starken Narrativ für die notwendige Agrar- und Ernährungswende. Dem Konzept „Bio“ macht es damit massiv Konkurrenz. Einige Ziele werden von beiden Konzepten verfolgt, sodass sie sich durchaus ergänzen können: Stichwort Biodiversität oder Bodenregeneration. Im Rahmen der Planetary Health Diet spielt jedoch die globale Ernährungssicherheit eine deutlich größere Rolle. Denn auf die Frage, wie sich 10 Milliarden Menschen im Jahr 2050 auf diesem Planeten gesund und nachhaltig ernähren können, hat die Bio-Szene, die sich lange zu sehr mit sich selbst, ihren Regulativen sowie ihrem Widerstand gegen die Agrarindustrie und -technolgie beschäftigt hat, keine hinreichenden Antworten gefunden. Dass dies überhaupt möglich wäre, selbst mit einem konsequenten globalen Systemwandel von konventionell auf bio, davon sind auch Bio-Verfechter nicht durchwegs überzeugt.

Dazu kommt, dass mit der biologischen Landwirtschaft, wie sie heute in Europa betrieben wird, nicht die Grenzwerte für alle sechs von der EAT-Lancet Commission definierten Schlüsselbereiche des Erdsystems eingehalten werden können. Das betrifft vor allem den Landverbrauch, der in der biologischen Produktion deutlich höher ist als in der konventionellen. Aber auch die Treibhausgas-Emissionen ließen sich nicht weit genug reduzieren, wenn der Anteil der Viehzucht in der Bio-Landwirtschaft so hoch bliebe wie er heute ist.

3. Price Challenge – Bio vs. Teuerung

Die Inflation, der Krieg in der Ukraine und die unter anderem dadurch verschärfte Energiekrise haben zu einem deutlichen Anstieg der Lebensmittelpreise geführt. Die Bio-Landwirtschaft ist vom massiven Anstieg der Energiepreise zwar weniger betroffen als die konventionelle, auch weil man auf die massiv teurer gewordenen chemischen Düngemittel verzichtet und im Vergleich weniger Futtermittel zukauft. Die Preisschere zwischen Bio-Produkten und konventionellen Lebensmitteln hat sich deshalb auch tendenziell verringert. Dennoch tragen die aktuell geringeren Haushaltbudgets dazu bei, dass der Anstieg des Bio-Konsums aus Pandemiezeiten sich nicht weiter fortsetzen wird. Aktuelle Daten belegen eine Abnahme des Bio-Konsums.

Vor allem Fleisch ist vom erwähnten Konsumrückgang betroffen. In Bio-Qualität kostet Rindfleisch beispielsweise das 2- bis 3-fache, was vielen Haushalten in Anbetracht der Inflation schlicht zu teuer sein dürfte. „Viele Betriebe wissen nicht, wohin mit den Rindern und ihrem Bio-Fleisch“, sagt Werner Habermann, Geschäftsführer der österreichischen ARGE Rind. Vor allem in Deutschland als wichtigstem Exportmarkt für österreichisches Bio-Rindfleisch geht die Nachfrage zurück. So kämpfen deutsche Schlachthöfe angesichts des zunehmenden Fleischverzichts mit Überkapazitäten, was Anfang 2022 zu Absatzeinbußen von 30 bis 40 Prozent geführt hat.

4. Routine Challenge – Bio vs. Marketing

Man kann es als Kollateralschaden der Bio-Erfolgsgeschichte einordnen, dass sich die zuständigen Akteure im Marketing lange Zeit wenig anstrengen mussten. Darauf weist auch Jörg Reuter in seinem kritischen Ausblick auf die Bio-Branche hin: „Im Ergebnis haben wir heute gerade im Fachhandel eine Menge Bio-Anbieter, aber kaum echte Bio-Marken, die sich voneinander in ihrer Positionierung differenzieren und eine hohe Kundenbindung aufgebaut haben.“ Der Bio-Markt sei stetig gewachsen, aber die Branche habe nie analysiert, warum der Markt sich so verhält und daraus proaktiv Schlüsse gezogen. Nun, da sich das Wachstum abschwächt oder sogar zurückgeht, rächt sich das.

Es reicht nicht, einseitig den Konsument:innen ein Verständnis für die Zusammenhänge der Natur nahe zu bringen. Die Bio-Szene sollte auch umgekehrt ein ebenso tiefes Verständnis für die sich ständig verändernde Lebenswirklichkeit der Konsument*innen entwickeln. Nur so kann sie die richtigen Akzente setzen, Strategien entwerfen und Produkte bzw. Services anbieten, die auch angenommen werden. Dazu zählen allem voran Marken, denen Vertrauen geschenkt wird, sodass beim täglichen Einkauf nicht ständig Labels, Kennzeichnungen und Zutatenlisten studiert werden müssen. In Deutschland ist das dem Unternehmen Alnatura am besten gelungen. 54 Prozent der Personen, die die Marke kennen, mögen sie auch. Das entspricht rund 41 Prozent der Bevölkerung. In Österreich sind es Ja!Natürlich und Zurück zum Ursprung, die Bio-Handelsmarken von Billa (Rewe) und Hofer (Aldi Süd), die im Bio-Beliebtheitsranking am besten abschneiden.

5. Local and Natural Challenge – Bio vs. regional

Dass Konsument*innen nicht klar unterscheiden zwischen biologischen und natürlichen Lebensmitteln und dass zudem die regionale Lebensmittelproduktion mitunter die biologische in ihrer Wertschätzung aussticht, hat sich schon vor 10 Jahren in unserer Trend- und Potenzialanalyse für die Bio-Zukunft abgezeichnet.

Wenn auch heute Konsument*innen Natürlichkeit und Qualität öfter unter dem Stichwort Regionalität verorten, ist das zurückzuführen auf einen politisch propagierten nationalen Ernährungsprotektionismus. Bio wusste dem kaum etwas entgegenzusetzen. Was konkret unter dem Begriff „regional“ verstanden wird, ist dabei allerdings sehr heterogen. Für die einen ist es ein bestimmtes Tal, für andere alles innerhalb eines Radius von 300 Kilometern oder eine Region wie etwa ein Landkreis, Bezirk oder Bundesland. Für wieder andere setzt es voraus, den produzierenden Betrieb aus eigener Anschauung zu kennen.

6. Sustainablity Challenge – Bio vs. Nachhaltigkeitskampagnen

Nachhaltigkeit ist zum Grundkonsens unserer Gesellschaft geworden und auch in der konventionellen Landwirtschaft, im Lebensmittelhandel sowie in vielen Gastronomiebetrieben (insbesondere der Gemeinschaftsverpflegung) zu einem zentralen Leitbild. Den Alleinvertretungsanspruch für nachhaltige Lebensmittelproduktion, den es lange für sich reklamieren konnte, hat Bio damit verloren. Umweltfreundliches Management, vor allem in Bezug auf Abfall- und Energiewirtschaft, ressourcenschonende Produktion und soziale Verantwortung gehören inzwischen für einen Großteil der Unternehmen in der Lebensmittelwirtschaft zur ausgelobten Corporate Social Responsibility. Das gilt auch jenseits des bloßen Greenwashings, das vor allem im Zusammenhang mit dem CO₂-Zertifikatshandel weiterhin ordentlich floriert.

Der Erfolg der Bio-Produkte, das allgemein gewachsene Nachhaltigkeits-Bewusstsein sowie die heute überall spürbaren Folgen des Klimawandels haben auch konventionelle Produzenten unter Druck gesetzt, ihre Produktionsmethoden anzupassen. Das verringert die Distanz zwischen bio und konventionell – zumindest in der Wahrnehmung der Konsument*innen, denen die Bio-Branche ihre faktischen Nachhaltigkeitserfolge nicht im notwendigen Ausmaß zu vermitteln weiß. Große Handelsketten wie Rewe in Deutschland oder Tesco in Großbritannien bewerben ihre Nachhaltigkeits- und Tierwohl-Initiativen indessen breitflächig, mit Nachdruck und ohne einen Bezug auf Bio. Ihr Ziel ist es, auf diese Weise Kunden zu binden.

7. Climate Challenge – Bio vs. Klimakrise

Die Klimakrise ist nun endgültig im Bewusstsein aller Menschen angekommen – unabhängig davon, wie sie jeweils dazu stehen. Die Ursachen, die zu einem großen Teil in der landwirtschaftlichen Produktion liegen, lassen sich aber nicht allein dadurch beseitigen, dass komplett oder auch nur größtenteils auf biologische Wirtschaftsweise umgestellt wird. Denn auch der Biolandbau ist von der Klimakrise betroffen, wenn er sich bislang auch als resilienter erweist. Eine Studie der NASA hat gezeigt, dass die Ertragsverluste durch Extremwetterbedingungen nicht nur weltweit steigen, sondern auch größer sind als bisher angenommen. Wird also Bio von der Wissenschaft und von den Konsument*innen nicht als global funktionierende Lösung wahrgenommen, wandert der Fokus der Politik in andere Bereiche ab.

Am orangen Cover steht in weißer Schrift

-> Machen Sie den Deep Dive in die Zukunft von Bio!

In ihrem Food Report 2024 widmet Hanni Rützler der Zukunft von Bio einen ausführlichen Themenschwerpunkt mit zahlreichen Statistiken, Infografiken und Best Practices von innovativen Landwirt:innen und zukunftsfähigen Konzepten.

Rützler geht dabei u.a. auf den notwendigen Tabubruch ein, der technologische Innovationen und ökologische Produktion vereint. Sie plädiert für mehr Anpassung an den Klimawandel statt nur Vermeidung, und für einen Plan B für Bio.

Lesen Sie darüber hinaus mehr über den Wandel der Esskultur und die wichtigsten Trends für die Player in und um die Food & Beverage-Branche – jetzt im aktuellen Food Report!

Food Report 2024, Euro 175,-. inkl. USt.