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Interview mit Willi Nowak und Ulla Rasmussen

Ein erwachsener Mann mit Rucksack und weißen Turnschuhen flitzt in kindlich anmutender Rennposition auf einem Roller dahin. Die Farben sind sehr dunkel gehalten und verschwimmen im Hintergrund.
Foto: Nicolas I. / Unsplash

1988 als alternativer Verkehrsclub gegründet, ist der VCÖ heute in Österreich das Kompetenzzentrum für nachhaltige Mobilität. Roswitha M. Reisinger hat den Gründer Willi Nowak und seine Nachfolgerin Ulla Rasmussen zu Erfolgen, Misserfolgen und Zukunftsvisionen befragt.

Willi, du hast 1988 den VCÖ – Mobilität mit Zukunft mitgegründet, ihn bis Ende 2021 geleitet und übergibst ihn nun in neue Hände. Hast du einen Pensionsschock?

Willi Nowak: (lacht) Ich bin im dritten Drittel meines Lebens. Das erste Drittel war groß werden, wachsen, Ausbildungen machen. Das zweite Drittel war Arbeit, Geld verdienen, etwas groß werden lassen, und nun im dritten Drittel möchte ich viel von meinen Erfahrungen mit mehr Ruhe auch im Privaten umsetzen. Ich kümmere mich nun um meine engere Umgebung, ganz konkret um das Matznerviertel, in dem ich lebe und wo unser Wohn- und Kulturzentrum, die Sargfabrik, liegt. Da ist genug zu tun, beispielsweise die Etablierung von Wohnstraßen und des Matzner-Marktes oder das Pflanzen von Bäumen, in deren Schatten ich vermutlich nicht mehr sitzen werde.

Wie kam es zur Gründung des VCÖ?

Willi Nowak: Der VCÖ ist eine der Organisationen, die nach den Besetzungen der Donauauen von Hainburg Anfang der 1980er-Jahre gegründet wurde. Es gab damals zwar zahlreiche Umweltinitiativen, auch regionale Verkehrsinitiativen, und viele Menschen mit hoher Expertise in der Verkehrswissenschaft, aber das Thema Verkehr wurden von niemandem gesamthaft aus Sicht der Nachhaltigkeit aufgegriffen.

Damals gab es allerdings bereits den Verkehrsclub Schweiz (VCS) und den Verkehrsclub Deutschland (VCD). Deren Geschäftsmodell war und ist, ein alternativer Autoclub zu sein, der Serviceleistungen für alle am Verkehr Teilnehmenden anbietet – von der Pannenhilfe bis zu Versicherungen für jene, die gehen oder Rad fahren sowie Zusatzleistungen für Fahrgäste des Öffentlichen Verkehrs. Ziel war, aus diesen Erlösen die politischen Aktivitäten zu finanzieren. Nach ein paar Jahren haben wir aber gesehen, dass das in Österreich nicht funktioniert. Wir hätten mehrere 10.000 Mitglieder gebraucht, um damit wirtschaftlich zu überleben.

Ihr habt diese existenzielle Krise gemeistert. Wie finanziert sich der VCÖ heute?

Willi Nowak: Wir haben uns auf unsere Wurzeln besonnen. Wir sind eine gemeinnützige Organisation, die sich für eine ökologisch verträgliche, sozial gerechte und effiziente Mobilität einsetzt. Heute finanzieren wir uns mehrheitlich aus Spenden. Das Problem dabei ist, dass das Thema Verkehr wenig emotional, eher kopflastig zahlenorientiert und technisch ist. Das löst wenig emotionale Bilder in den Köpfen der Menschen aus. Für Spendenwerbung ist es aber wichtig, dass Menschen emotional reagieren. Im Grunde bedeutet das für den VCÖ, dass es nur ein begrenztes Publikum gibt, das bereit ist, uns mit Spenden zu unterstützen: eher Fachleute, tendenziell besser gebildete Menschen oder Multiplikatoren. Aber natürlich auch einige, die durch die derzeitige klimazerstörerische und autoorientierte Verkehrssituation schon gehörig genervt sind. Ich glaube auch, dass es dem VCÖ gelungen ist, durch die grafische Aufbereitung seiner Inhalte und seiner Publikationen das Thema Mobilität für viele greifbarer und anschaulicher zu machen. Darüber hinaus loben wir jährlich den VCÖ-Mobilitätspreis aus – mitfinanziert von Sponsoren aus dem Verkehrsbereich. Durch über 30 Jahre VCÖ-Mobilitätspreis haben wir bereits Tausende positive Beispiele vor den Vorhang geholt, wie Nachhaltigkeit im Verkehrsbereich Wirklichkeit werden kann.

Du warst eine der ganz großen treibenden Kräfte für eine umweltverträgliche und menschengerechte Mobilität in Österreich. Was ist deine Motivation?

Nowak: Mein Antrieb ist sicher die Kombination aus einem grundsätzlichen Ökobewusstsein und einem hohen Gestaltungswillen, und zwar in allen Lebensbereichen. Das gilt auch jetzt in meinem dritten Lebensabschnitt. Das abstrakte Thema Verkehr mit seinen nationalen und internationalen Vernetzungen überlasse ich jetzt anderen und schaue mehr darauf, was ich in meinem persönlichen Umfeld bewirken kann.

Ulla, wie hast du deine Leidenschaft für Mobilität entdeckt?

Ulla Rasmussen: Ich habe mich im Studium ganz besonders für Umweltpolitik und ökonomische Effekte – Stichwort Kostenwahrheit und fehlende Internalisierung externer Kosten – interessiert. Durch meinen Mann kam ich nach Österreich, habe über das Ökobüro Willi und den VCÖ kennengelernt und bin so beim VCÖ gelandet.

Zur Leidenschaft: Für mich ist Mobilität eher leidenschaftslos – wenn ich wo hinkommen will, muss das effizient und umweltverträglich sein.

Willi, wie hat sich die Verkehrssituation in den letzten 30 Jahren verändert?

Willi Nowak: In den Gründungsjahren des VCÖ, so um das Jahr 1990, wurden beispielsweise die in Österreich gebrauchten Güter noch großteils in Europa hergestellt. Heute, im Jahr 2022, kommt der Großteil der Güter von außerhalb Europas nach Österreich. Diese globale Vernetzung hat natürlich enorme Wirkungen auf den Transportbereich und die Transportwege. Aus Klima- und Umweltsicht können wir sagen, dass sich die weltweite Verkehrssituation extrem verschlechtert hat. Durch viel mehr Flugverkehr, mehr Schifffahrt, mehr Logistik gibt es mehr umweltschädliche Wirkungen.

Anders ist es, wenn wir uns die Verkehrssituation lokal ansehen. Da hat sich enorm viel verbessert. Es gibt viel weniger Schadstoffe und Lärm in den Städten. Verkehrsberuhigungsmaßnahmen gehören zum Standard. Es wird mehr mit dem Rad gefahren als früher und auch der öffentliche Verkehr und seine Akzeptanz haben sich enorm verbessert. Im Jahr 1992 hat der VCÖ beim Mobilitätspreis noch eine Fußgängerzone ausgezeichnet – heute würden wir das nicht mehr tun, denn Fußgängerzonen sind Standard geworden. So wie auch generell Aufenthaltsqualität im öffentlichen Raum viel wichtiger genommen wird.

Die Diskussion rund um die neue Stadtstraße in Wien ist diesbezüglich absurd. Dass es für die Erschließung eines riesigen Wohngebietes für 60.000 Menschen Straßen braucht, ist sonnenklar. Aber dass dazu ein völlig überholtes Modell einer geraden vier-streifigen autobahnähnlichen Straße aus der Schublade gezogen wird, widerspricht allem, was die Stadt Wien für sich selbst an fortschrittlichen Konzepten zu Klimaschutz und Stadtentwicklung formuliert hat. Mit dieser veralteten Vorgehensweise werden zehntausende Menschen zu einer autoorientierten Mobilität gezwungen, die sie nicht wollen und in einer der lebenswesten Städte der Welt nicht brauchen.

Willi Nowak, Foto: VCÖ / Rita Newman

Aus Klima- und Umweltsicht können wir sagen, dass sich die weltweite Verkehrssituation extrem verschlechtert hat.

Durch viel mehr Flugverkehr, mehr Schifffahrt, mehr Logistik gibt es mehr umweltschädliche Wirkungen.

WILLI NOVAK


Ulla, du bist ja schon 20 Jahre im VCÖ tätig – unter anderem als Head of International Policy. Wie siehst du die internationalen Entwicklungen in den letzten Jahren?

Ulla Rasmussen: Es hat einen ordentlichen Ruck gegeben. Es hat im Jahr 2015 mit der Klimakonferenz in Paris begonnen und auf EU-Ebene wurden sowohl Treibhausgas-Emissions-Reduktionziele als auch konkrete Regulierungen, für Fahrzeuge beispielsweise, immer weiter nachgeschärft. Der Green Deal, die Taxonomie – das alles kann eine enorme Wirkung Richtung umweltverträglich Mobilität haben.

Basierend auf die nationalen Ziele der EU-Staaten werden als Nächstes in Österreich die sektoralen Klimaschutzziele beschlossen. Sie sind wichtig, denn erst dann werden die Bundesländer ihre Strategien entwickeln. Noch warten die Länder auf einen fixen Rahmen, bevor sie sich bewegen.

Das alles ändert aber nichts daran, dass viele externe Kosten noch immer nicht in die Preise der Transport- und Mobilitätsleistungen internalisiert sind. Ich bin gespannt, ob die EU den Klimazoll für Waren und Leistungen von außerhalb der EU einführt, denn das hat enormes Potenzial, sowohl für Klimaschutz als auch für ein regionaleres Wirtschaftssystem.

Wie hat sich der VCÖ in den letzten 35 Jahren verändert?

Willi Nowak: Die Herausforderungen beim Thema Verkehr haben sich verändert, und damit der VCÖ als Organisation und unsere Methoden.

Zu Beginn waren wir ein föderalistisch organisierter Verein mit vielen Ehrenamtlichen. Damit waren auf Dauer die geforderten Leistungen nicht kontinuierlich und in der gewünschten Qualität zu gewährleisten. Jetzt hat der VCÖ inklusive seiner Zivildiener und Praktikant*innen knapp 20 Beschäftigte, alle mit hervorragenden Qualifikationen. Datenbanken, Managementtools oder auch permanente Weiterbildung prägen den VCÖ heute.

Und das Thema „Verkehr“ hat sich gewandelt. Mobilität und Transport sind global zu betrachten, es geht nicht mehr nur um die Bedürfnisse derer, die jetzt leben, sondern auch um die zukünftigen Generationen. Thematisch braucht es Vernetzung zu den Themen Soziales, gesellschaftliche Transformation oder auch einfach nur im Finanzsektor. Die Klimakrise bewältigen wir nicht zwischen Wien und Bregenz und auch nicht dadurch, dass wir es uns jetzt richten. Darüber hinaus ist es wichtig, dass wir nicht nur mit dem Herz dabei sind, sondern auch Konzeptarbeit leisten und gelungene Beispiele vor den Vorhang holen.

Wie sieht die zukünftige Rolle des VCÖ aus?

Ulla Rasmussen: Der VCÖ wird lösungsorientiert und faktenbasiert bleiben. Ein wesentliches Element unserer Arbeit ist der VCÖ-Mobilitätspreis. Mit dem Preis zeichnen wir aus, was anderen gelungen ist. Damit zeigen wir: „Wenn das die anderen schaffen, dann kannst du das auch schaffen.“ Und das gilt für eine Bürgermeisterin oder einen Bürgermeister genauso wie für ein Unternehmen, eine Initiative oder eine Schule. Der VCÖ-Mobilitätspreis ist eine unserer erfolgreichsten Aktivitäten – bereits mehr als 3.000 Projekte stehen auf der VCÖ-Website in einer für alle zugänglichen Projektdatenbank zur Verfügung. Es ist Teil der VCÖ-Kultur, ganz bewusst Informationen öffentlich zur Verfügung zu stellen. Das gilt genauso für unsere Fachpublikationen und unsere Info-Grafiken. Wir verlangen kein Geld dafür.

Willi Nowak: Der VCÖ hätte sich auch wie viele andere von der Umweltorganisation zur Beratungsorganisation wandeln können und damit viel Geld verdienen. Unsere Konzepte sind gut, unsere Vorgehensweise faktenbasiert, unsere Kommunikationstools teilweise einzigartig. Doch wir haben uns bewusst entschieden, eine spendenbasierte, auf Mobilitätsfragen spezialisierte NGO zu sein. Wir sehen die VCÖ-Rolle im Aufbereiten und Weitergeben von Wissen. Wir kooperieren mit Forschungseinrichtungen und bieten über unsere Veröffentlichungen und die Projektdatenbank Hilfe zur Selbsthilfe an. Auch die völlig anders organisierten neuen Bewegungen wie etwa „Fridays for Future“ brauchen uns „alte“ organisierte Umweltbewegung als Basis ihrer Aktivitäten. Dafür stellen wir unseren Fundus zur Verfügung – ich finde das eine gelungene Kooperation.

Auf einer Asphaltbahn mit sehr engen, geschwungenen weißen Bodenmarkierungen fährt ein kleines Kind mit seinem Roller.
Foto: Sam Poullain / Unsplash

Woran messt ihr den VCÖ-Erfolg?

Willi Nowak: Wir sehen es als positive Wirkung, wenn eine VCÖ-Idee aufgegriffen wird. Oder wenn jemand auf eine unserer Ideen aufbaut und diese weiterentwickelt. Wenn wir einen Gesetzesvorschlag gemacht haben, der im Nationalrat diskutiert und vielleicht sogar beschlossen wird. Wir versuchen das zu messen. Es gibt sicher 100 Themen und Teilbereiche, wo der VCÖ im Sinn unserer Nachhaltigkeitsziele positive Spuren hinterlassen hat.

Wir schauen da sehr genau hin. Es dauert durchschnittlich 15 Jahre zwischen dem Auftauchen einer VCÖ-Idee und dem Zeitpunkt, wann diese Idee Wirklichkeit wird. Vieles ist umgesetzt, z.B. die Lkw-Maut oder Abgasnormen. Anderes, wie die Abschaffung des Dieselprivilegs – das haben wir bereits 1989 gefordert – ist noch nicht umgesetzt.

Das zeigt, dass es einen sehr langen Atem braucht – durchschnittlich drei Legislaturperioden. Daher darf die Arbeit nicht an einzelnen Personen hängen. Einen so langen Atem hat nur eine Organisation mit den dazugehörigen Prozessen und Vorgangsweisen.

Hat der Beitritt zur EU hier etwas verändert?

Willi Nowak: Seit Österreich bei der EU ist, dauern Prozesse länger. Allerdings hätten wir vieles ohne EU nicht, weil die EU hartnäckig Vorgaben macht, wo sich einzelne Nationalstatten, auch Österreich, aus der Verantwortung stehlen würden. So müssen sich die Nationalstaaten damit beschäftigen. Gäbe es die EU nicht, gäbe es keine ausreichende Klimapolitik. Die Prozesse dauern zwar länger, aber sie finden konsequenter statt und die Verwirklichungsrate ist höher. Das ist auch einer der Gründe, warum der VCÖ bereits im Jahr 1990 gemeinsam mit anderen „T&E – Transport and Environment“ – eine EU-Dachorganisation – gegründet hat. Wir haben sozusagen ein Büro in Brüssel.

Stichwort Klimakrise: Nur akkordierte internationale Handlungen können wirksam zu dessen Eindämmung beitragen. Wirkt sich das auf eure Personalbesetzungen aus?

Willi Nowak: Natürlich. Es ist wichtig, internationale Kontakte zu pflegen. Ulla ist zum Beispiel seit vielen Jahre international engagiert und war lange im Vorstand von T&E in Brüssel. Auch unsere aktuellen Kolleginnen und Kollegen im VCÖ sind international vernetzt.

Was waren die größten Erfolge bzw. Niederlagen der letzten 35 Jahre?

Willi Nowak: Ich tue mir etwas schwer mit dem Begriff Erfolg bzw. Niederlagen. Es war ein permanentes Lernen mit Hürden. Und die Hindernisse waren manchmal enorm hoch. Ich sehe es als Erfolg, wenn sich der VCÖ so transformiert, dass er sich weniger an den Innenbedürfnissen der Organisation, sondern NGO-spezifisch nach den Erfordernissen des Außen verändert. Das braucht Fingerspitzengefühl, aber auch Know-how. Wir haben viele urgescheite Menschen im VCÖ und rund um ihn herum – und das ist das Potenzial, um die großen Hürden zu nehmen. Wir haben auch immer nah an den modernsten Organisationsmodellen gearbeitet und gelernt, mit Schwierigkeiten sehr professionell umzugehen. Eines davon ist zum Beispiel, dass der VCÖ sehr eng in ein sehr gutes Kompetenz-Netzwerk eingebunden ist, um die anstehenden Mobilitätsfragen bestmöglich zu beantworten.

Ulla Rasmussen: Es gibt immer Fortschritte, aber auch Rückschläge. Als Kämpfende für eine bessere Welt können wir nie zufrieden sein. Der VCÖ hat aber sicher ganz stark die Themensetzung im Verkehrsbereich in Österreich in den vergangenen Jahren mitgeprägt. Und zwar zu einem viel höheren Grad als die Organisationsgröße vermuten lassen würde. Das ist ein großer Erfolg und hat Wirkung. Der VCÖ ist eine anerkannte Größe.

Willi Nowak: In 35 Jahren habe ich in der Politik Menschen aller Couleurs und Ausrichtungen erlebt. Der VCÖ hatte mit nahezu allen eine gute Gesprächsbasis und wir haben so immer auch etwas bewegen können. Das gilt auch für die Zusammenarbeit mit Unternehmen. Sie haben große Hebel in der Hand, um in der Mobilität etwas zu ändern. Wenn ein Lebensmittelkonzern sich der Mobilität seiner Beschäftigten annimmt, oder ein Hersteller von Schienenfahrzeugen Fahrgastinteressen stärker berücksichtigt, dann ist viel gelungen.

Diese Anschlussfähigkeit des VCÖ ist von großer Bedeutung für die Wirksamkeit einer Organisation.

Ulla Rasmussen: Erfolgreich sind wir auch in der Weiterentwicklung unserer Instrumente. Das beginnt beim VCÖ-Magazin, wo auch andere mit ihren Gedanken zu Wort kommen, und reicht bis zur grafischen Aufbereitung, um das Wissen ansprechend zu vermitteln. Gerade jetzt stehen wir wieder vor entsprechenden Herausforderungen, weil angesichts der sich verschärfenden Klimakrise Kommunikation nicht nur aufklären und informieren, sondern auch verstärkt zum Handeln bewegen soll. Auch der Anspruch zu mehr bewegten Bildern und Filmen ist gegeben.

Ulla, du bist seit 1. Jänner 2022 Geschäftsführerin des VCÖ. Wie wird sich deine Tätigkeit ändern?

Ulla Rasmussen: Es ist eine besondere Situation für eine Organisation, wenn der Gründer geht. Wir haben bereits im letzten Jahr unsere Organisationsstruktur geändert und ein Kreismodell eingeführt. Ich sehe die Geschäftsführung als eine Dienstleistung, die bestimmte Tätigkeiten und Aufgaben zu erfüllen hat. Zudem teile ich mir die Geschäftsführung mit einer Kollegin. Im VCÖ gab es immer schon eine sehr flache Hierarchie und jetzt wird es noch kollaborativer. Das braucht es auch, um Kompetenzen, Kreativität und Einsatzfreude zu entfachen.

Die digitale Entwicklung, die durch die Corona-Pandemie beschleunigt wird, bringt eine neue Herausforderung. Wir sind vielfach im Homeoffice – also auf Distanz – und wollen trotzdem ein Team sein. Das wird von Unternehmen zu Unternehmen und von den einzelnen Beschäftigten sehr unterschiedlich gehandhabt. Beim VCÖ kann sehr viel in Distanz gemacht werden. Wir müssen jetzt auf die Bedürfnisse der einzelnen Personen eingehen – was brauchen sie und was braucht die Aufgabe. Kollegen und Kolleginnen mit kleinen Kindern oder wenig Platz zuhause arbeiten oft lieber im Büro. Es gibt kein „one fits all“, es braucht einen Mix, damit das Optimum herauskommt.

Was reizt dich an der neuen Herausforderung?

Ulla Rasmussen: Ich habe in meinem Berufsleben bereits sehr viele unterschiedliche Dinge gemacht. Ich will herausfinden, ob mir die neue Herausforderung liegt, und freue mich darauf, mehr zu gestalten – natürlich kollaborativ und kollegial.

Was wird sich im VCÖ unter deiner Leitung ändern?

Ulla Rasmussen: Der VCÖ wird weiterhin eine sehr agile Organisation bleiben. Bewegung und Veränderung ist Teil der DNA des VCÖ. Was gleich bleibt, ist unser Ziel einer ökologisch verträglichen und sozial gerechten Mobilität. Deshalb war und ist der VCÖ erfolgreich. Organisationsintern stehen jetzt zwei Herausforderungen an: Unser Kreismodell im Team muss sich bewähren und die Digitalisierung des VCÖ muss vorangetrieben werden.

Ulla Rasmussen, Foto: VCÖ / Rita Newman
Es lohnt sich, wenn Unternehmen Lösungen für den Arbeitsweg suchen: Radfahrende haben weniger Krankenstandstage, die Zufriedenheit nimmt generell zu und in vielen Fällen kann vergeudete Zeit am Arbeitsweg vermieden werden.

ULLA RASMUSSEN


Die fossile Mobilität ist ja das große Sorgenkind Österreichs. Warum hat sich Österreich hier so negativ entwickelt?

Ulla Rasmussen: Das hat viel mit den Treibstoffpreisen und der Besteuerung in Österreich zu tun. Österreich hat sich schon vor Jahren entschieden, auf einem niedrigen Preisniveau zu bleiben. Durch die zentrale geografische Lage in Europa führt das aber zu sehr viel Tanktourismus. Die Politik hat so in Kauf genommen, dass wir die Klimaziele verfehlen. Dazu kommt, dass durch den billigen Treibstoff auch der Verbrauch im Inland gestiegen ist und die Alternativen weniger attraktiv geworden sind. Immer noch fällt bisweilen das Wort der Subventionierung des Öffentlichen Verkehrs. Aber in Wirklichkeit wird der Kfz-Verkehr über unterschiedliche Förderschienen wie Firmenwagen-Besteuerung, Pendlerförderung oder fehlende oder unzureichende Mauten subventioniert.

Willi Nowak: Diese negative Entwicklung hängt nicht an einzelnen Personen oder nur einer Regierung. Die Politik der letzten Jahrzehnte hat uns in diese Öl- und Gasabhängigkeit geführt. 80 Prozent des nach Österreich importierten Erdöls gehen in den Verkehr. Dass das nicht nur verkehrs- und energiepolitisch eine Sackgasse ist, sondern auch Menschenrechte und Demokratie beschädigt, ist gerade sehr deutlich zu sehen. Diese politische Dimension war viel zu wenig bewusst und fällt uns jetzt auf den Kopf.

Nun haben wir zwei Probleme gemeinsam zu lösen: die hohe Abhängigkeit von fossilen Energien zu beenden und die Klimakatastrophe abzuwenden. Und wir haben eine Bevölkerung, die über weite Strecken nicht bereit und teilweise auch nicht fähig ist, die höheren Kosten zu tragen. In anderen Staaten gibt es seit vielen Jahrzehnten eine Valorisierung der Treibstoffbesteuerung. Dadurch sind viele Probleme dort gar nicht entstanden bzw. die Alternativen haben bessere Chancen.

Ulla Rasmussen: In Österreich sind die beharrenden Kräfte besonders mächtig.  Es fehlt die Vertretung der zukünftigen Generationen. Deren Bedürfnisse bleiben ausgeblendet, auch weil der größere Rahmen fehlt.

Was sind die wichtigsten Maßnahmen, die kurzfristig, mittelfristig und langfristig umgesetzt werden müssen?

Ulla Rasmussen: Wir brauchen erstens ein verbindliches Klimaschutzgesetz, in dem Sektorziele, Zielpfade, Zuständigkeiten und Verantwortlichkeiten verankert sind und geklärt ist, was passiert, wenn Ziele nicht erreicht werden.

Zweitens braucht es eine Bewegung für ein lebenswertes Lebensumfeld. Das Maß dafür müssen Kinder sein. Wenn sich Kinder ohne Gefahr bewegen und sich allein zurechtfinden können, dann passt es auch für alle anderen Gruppen. Was es braucht, ist Tempo 30 als Regelgeschwindigkeit in Städten, mehr Begrünung und Beschattung, Plätze, an denen der Aufenthalt attraktiv ist. Das reicht bis zur Kreislaufwirtschaft in der Bauwirtschaft: Straßen sollten nur mehr aus Abbruchmaterialien gebaut werden, Gebäude nur mehr mit dem Gedanken der flexiblen Nutzung. Zum Beispiel sollten Garagen so errichtet werden, dass sie  – dann, wenn es deutlich weniger Autos mehr braucht – auch als Veranstaltungsplätze genutzt werden können. Wir stehen vor einem riesen Systemwandel, der enormes Potenzial hat.

Drittens sollten Unternehmen für den Arbeitsweg ihrer Beschäftigten Verantwortung übernehmen und sich Lösungen überlegen. Das lohnt sich auch für die Unternehmen, denn beispielsweise haben Radfahrende weniger Krankenstandstage, generell nimmt die Zufriedenheit im Unternehmen zu und in vielen Fällen kann auch vergeudete Zeit am Arbeitsweg vermieden werden, sowohl durch Homeoffice als auch durch die Nutzung von guten öffentlichen Verkehrsverbindungen.

Willi Nowak: Städte sind eine sehr effiziente Form des Zusammenlebens. Es ist höchste Zeit, dass alte Konzepte der Stadtentwicklung und Stadtplanung, wie die autogerechte Stadt, verschwinden. Die Motorisierung hat Städte verändert und über weite Strecken zerstört. Verkehrsflächen und Straßen waren immer Verbindungen zwischen Menschen und Orten, sie sind der Platz der Begegnung und des Aufenthalts. Dieses andere Denken zu etablieren, dafür braucht es den VCÖ. Groß denken und dann ganz konkret werden. Beispielsweise das Modell der 15-Minuten-Stadt, wo alle wesentlichen Funktionen des täglichen Bedarfs innerhalb von 15 Minuten zu Fuß erreichbar sind, zum Standard werden lassen.

Was ist eure Idee für den ländlichen Raum?

Ulla Rasmussen: Es braucht besonders in ländlichen Gebieten eine Mobilitätsgarantie, die Mobilität unabhängig vom Auto sicherstellt. Mobilität ist Teil der Daseinsvorsorge, um unabhängig von Alter, Geschlecht oder wirtschaftlichen Verhältnissen, zur Befriedigung der Grundbedürfnisse mobil sein zu können. In der Schweiz gibt es beispielsweise unterschiedliche Erschließungsklassen: Für alle Gemeinden gibt es eine garantierte Anbindung mit öffentlichen Verkehrsmitteln. Je nach Anzahl der in der Gemeinde lebenden Menschen fahren Bus und Bahn dann im Zwei-Stunden-Takt, Ein-Stunden-Takt oder viel häufiger.