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Wir sehen klare Tendenzen einer Transformation zu einer nachhaltigeren Wirtschaft

Stefan Doboczky, Vorstandsvorsitzender der Lenzing Gruppe

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Stefan Doboczky, Lenzing AG lenzing-ag

Wie stark ist Ihre Branche von COVID-19 wirtschaftlich betroffen?

Die COVID-19-Krise beeinflusst die gesamte Textil- und Bekleidungsindustrie, ausgehend vom Einzelhandel, und damit auch den Weltfasermarkt negativ. Nachdem der Handelskonflikt zwischen den USA und China bereits 2019 zu einer deutlich schwierigeren Nachfragesituation geführt hatte, ließ die Schließung von Geschäften im Textil-Einzelhandel die Fasernachfrage 2020 zuerst in China und später in praktisch allen Märkten weltweit stark zurückgehen.

Die Preise für holzbasierte Standardviscose lagen Ende 2019 aufgrund eines Kapazitätsüberhangs auf einem historischen Tiefstand. Im 1. Quartal sorgten Wartungsstillstände und Produktionsdrosselungen in China für eine kurzzeitige Stabilisierung der Preise. Der in vielen Hauptmärkten verhängte Lockdown infolge des Coronavirus ließ die Preise bis Ende März allerdings auf ein neues Allzeittief von RMB/to 9.150 sinken. Der generelle Nachfrageeinbruch am Fasermarkt, gepaart mit der großen Preisdifferenz zu anderen Fasertypen, wirkte sich im 1. Quartal zunehmend auch auf die Preise für holzbasierte Spezialfasern negativ aus. Gleichzeitig hat der dringende Bedarf an Medizin- und Hygieneprodukten die Preise für Vliesfasern erhöht.

Wie geht es Ihrem Unternehmen im Vergleich zu anderen in der Branche?

In diesem äußerst schwierigen Marktumfeld profitierte die Lenzing Gruppe von ihrem diversifizierten Geschäftsmodell mit den Geschäftsbereichen Textil- und Vliesfasern sowie einem globalen Produktions-, Vertriebs- und Marketingnetzwerk, sodass der Effekt auf die Umsatz- und Ergebnisentwicklung im 1. Quartal 2020 teilweise kompensiert werden konnte.

„Die COVID-19-Krise beeinflusst die gesamte Textil- und Bekleidungsindustrie sehr negativ und erhöhte den Preis- und Mengendruck auf den Weltfasermarkt weiter. Lenzing behauptete sich in diesem äußerst schwierigen Marktumfeld und treibt die Umsetzung ihrer Schlüsselprojekte in Brasilien und Thailand weiter voran“, sagt Stefan Doboczky, Vorstandsvorsitzender der Lenzing Gruppe. „Um den hohen Bedarf an hygienischen Schutzartikeln für die Bevölkerung und für medizinisches Personal zu decken, haben wir im 1. Quartal 2020 die Zusammenarbeit mit Partnern entlang der Wertschöpfungsketten intensiviert. Heute sind wir stolz, dass wir unser Ziel einer industriellen Produktion von hochwertigen Schutzmasken gemeinsam mit unserem Partner Palmers erreicht haben und damit Österreich und Europa im Kampf gegen die Pandemie bestmöglich unterstützen können“, so Doboczky.

Hat die nachhaltige Positionierung zu einer besseren Position beigetragen oder hat sie die Krise verstärkt?

Natürlich sind wir aufgrund des Markteinbruchs zunächst von der Krise ebenso betroffen. Allerdings sehen wir klare Tendenzen einer Transformation hin zu einer nachhaltigeren Wirtschaft unterstützt durch die Industrie selbst sowie von der EU. Zu erwartende Richtlinien der EU in Bezug auf einer Forcierung der Kreislaufwirtschaft und der Finanzierung nachhaltiger Investitionen sowie zukünftige Beschaffungspraktiken unserer Kunden für nachhaltige Rohstoffe beweisen, dass unsere nachhaltige Positionierung unsere Position stärkt. Es bedeutet aber auch, dass wir diesen Weg weitergehen werden, um in Zukunft wettbewerbsfähig zu bleiben.

Mit dem Motto „Stand up! Gegen Business as Usual“ (Titel Nachhaltigkeitsbericht 2019, Anmerkung) betont Lenzing ihren Zugang, über ihre Produkte hinaus Verantwortung zu übernehmen. Mit der Umsetzung des Science-based target trägt Lenzing aktiv zur Bewältigung der durch den Klimawandel bedingten Probleme bei. Die Lenzing Gruppe hat sich dazu verpflichtet, ihre Treibhausgasemissionen pro Tonne Produkt bis 2030 um 50 Prozent gegenüber der Ausgangsbasis 2017 zu reduzieren. Das Ziel für 2050 lautet klimaneutral zu sein.

Nachhaltigkeit ist einer der zentralen Werte unserer Gruppe und Triebkraft für unser Geschäft und für unsere Innovationen. Dabei gilt es, ein Gleichgewicht bei allen unseren Entscheidungen zwischen den Aspekten People, Planet und Profit zu bewahren und nach Lösungen zu suchen, die einen Zusatznutzen für Mensch und Umwelt bieten. Dieser Ansatz bewährte sich gerade im aktuellen Kampf gegen die COVID-19-Pandemie. Lenzing verstärkte 2020 die Zusammenarbeit mit Partnern entlang der Wertschöpfungsketten, um den aktuell erhöhten Bedarf an hochwertigen Hygiene- und Schutzartikeln zu decken. Lenzing AG und Palmers Textil AG gründeten Ende April die Hygiene Austria LP GmbH, an der die Lenzing AG 50,1 Prozent und die Palmers Textil AG 49,9 Prozent hält. Das neu gegründete Unternehmen startete ab Mai 2020 mit der Produktion und dem Verkauf von Schutzmasken für den heimischen und europäischen Markt. Die beiden Unternehmen investierten mehrere Millionen Euro in eine moderne Produktionsinfrastruktur am Standort Wiener Neudorf und sicherten sich die entsprechenden Rohstoffe zur Schutzmaskenproduktion.

Was muss sich ändern, damit in Ihrer Branche eine derartige Krise besser bewältigt werden kann?

Soziale Verantwortung und Nachhaltigkeit werden in unserem täglichen Leben und in der Wirtschafswelt einen höheren Stellenwert einnehmen müssen. Um derartige Krisen in Zukunft besser bewältigen zu können, ist eine Transformation unserer Industrie hin zu einer nachhaltigeren Industrie erforderlich, die zentrale Themen wie Klimawandel, Biodiversität und die Kreislaufwirtschaft als Hauptschwerpunkte behandelt und in die globalen Geschäftsaktivitäten integriert. Dies erfordert eine weitaus höhere Transparenz entlang der gesamten Wertschöpfungskette in Bezug auf den Materialfluss sowie den ökologischen und sozialen Fußabdruck der Produkte. Um ein nachhaltiges Wachstum und eine höhere Resilienz unserer Industrie zu fördern, ist eine Definition von Kriterien notwendig, die beschreiben, wann eine Wirtschaftstätigkeit nachhaltig ist und wann diese wesentlich zur Verwirklichung der drängendsten Umweltziele beiträgt. Wichtig ist es hier, die Aspekte Umwelt, Soziales und Unternehmensführung/Governance in den Mittelpunkt des Finanzsystems zu stellen, so wie es der EU Action Plan on Financing Sustainable Growth vorsieht, um diese Aspekte in alle Investitionen, die von Finanzteilnehmern getätigt werden, zu integrieren.

Für uns als Unternehmen heißt das, dass wir Aspekte der Nachhaltigkeit in alle Funktionen des Unternehmens implementieren sowie klare Nachhaltigkeitsziele definieren und umsetzen. Das heißt, einen klaren Fokus auf Innovation zu setzen, um unseren Beitrag zu leisten und Lösungen für die globalen Herausforderungen wie Klimawandel, den Schutz gefährdeter Wälder sowie der Transformation hin zu einer Kreislaufwirtschaft zu bieten.

Um derartige Krisen in Zukunft besser zu bewältigen und den sich schnell wandelnden Anforderungen in Zukunft gerecht zu werden, setzen wir auf hochwertige und nachhaltig erzeugte Spezialfasern sowie eine hohe Flexibilität, Agilität und sehr enge Zusammenarbeit mit der gesamten Wertschöpfungskette.