Wie soziale Ökosysteme die Wirtschaft verändern (werden).
Unternehmensstrategien, Geschäftsmodelle, Prozesse der Zusammenarbeit verändern sich rasant. Digitalisierung trägt dazu massiv bei, ist aber nicht alleinige Auslöserin. Wieso es Sinn macht, über Kooperationen bewusst nachzudenken und die Auswirkung des eigenen unternehmerischen Handelns auf das Umfeld in den Blick zu nehmen.
Plötzlich ist alles anders
Die Welt ist komplex geworden. Die Dynamik nimmt zu. Krisen treten in gefühlt zunehmender Geschwindigkeit und nebeneinander auf. Adam Tooze beschreibt das als Polykrise: Die Bedrohungen beeinflussen, verstärken sich gegenseitig und gefährden den bis vor Kurzem noch angenommenen Konsens zu gesellschaftlichen Errungenschaften wie Demokratie oder den sozialen Zusammenhalt. Scheinbar parallel dazu stellen Digitalisierung und KI alle Lebensbereiche auf den Kopf, besonders in der Wirtschaft. Unternehmen müssen rasch und kräftig handeln – trotz zunehmender Widersprüche, wie Gleichzeitigkeit von globaler digitaler Vernetzung, politischem Nationalismus und wirtschaftlichem Separatismus.
Die Auswirkungen sind offensichtlich. Vorhersehbarkeit und Planbarkeit nehmen rapide ab, Entscheidungen müssen in zunehmend kürzerer Zeit auf Basis immer weniger Grundlagen getroffen werden, bislang funktionierende Geschäftsmodelle, Produktionsformen und Prozesse sind plötzlich nutzlos.
Aber ging das wirklich plötzlich? Waren die Formen des bisherigen Wirtschaftens wirklich nützlich? Oder haben sie uns erst in diese missliche Lage gebracht? – Eine wichtige Frage, aber nicht die wichtigste. Denn jetzt geht es darum, rasch gangbare Wege zu finden, wie Manager*innen mit der Situation umgehen können.
Vernetzung schafft Öko-Systeme
Wer heute mit Verantwortlichen spricht, hört eines immer wieder: Allein schaffen wir das nicht. Ohne intelligente Formen von Zusammenarbeit, ohne das Eingehen von Partnerschaften, ohne Vertrauen kommen wir da nicht raus.
Rein ökonomisch betrachtet entstehen – durch KI befeuert – neue Branchen und Geschäftsmodelle, eine Netzwerk-Ökonomie. Aber wie können Unternehmen durch neue Formen der Zusammenarbeit Wert schaffen? Und wie müssen die internen und externen Netzwerke gestaltet werden? Dafür ist es nötig, sich von lieb gewonnenen Glaubenssätzen zu verabschieden. Und plötzlich kann es gelingen, mit bisherigen Konkurrent*innen zu kooperieren oder mit Akteuren, die anders ticken und scheinbar gar nichts mit dem eigenen Geschäft zu tun haben, gemeinsame Nenner zu finden.
Von der Suchmaschine zum Tech-Konzern: Erinnern wir uns, dass Google ursprünglich eine Suchmaschine war. Heute erforscht der Tech-Konzern autonomes Fahren – Google Street View ist in diesem Kontext zu sehen. Das Tochterunternehmen WAYMO erhielt im August 2023 die Genehmigung, in San Francisco autonome Taxifahrten ohne Fahrer*in anzubieten. Das Auto wurde mit Audi entwickelt. Software, Plattformlösung und Daten steuert der Tech-Konzern bei. UBER ist teils Partner, teils Konkurrent.
Die Kooperation hat das Potenzial, die Logik, wie „Autogeschäft“ funktioniert, zu revolutionieren. Die selbstfahrenden Autos werden nicht für Endabnehmer*innen produziert – die Kund*innen zahlen für den Transport von A nach B und nicht für den Erwerb eines Autos. Der Kern des Geschäftes ist das Sammeln und Nutzen von Daten. WAYMO ist dabei, den Fahrtendienst auf die USA auszurollen und einen ersten Standort in Asien zu eröffnen. Nebenbei: Der Begriff „Standort“ fühlt sich in diesem Kontext anachronistisch an.
Und wie löst das die Klimakrise?
Zugegeben: gar nicht. Es wird das Bild von Städten verändern (weil die fahrbaren Daten-Sammel-Maschinen in Bewegung bleiben, statt zu parken), es wird das Konzept „Individualverkehr“ verändern und es gibt Hinweise, wohin die Wirtschaft gehen kann. Zumindest aus heutiger Sicht und bei aller Unvorhersehbarkeit. Es zeigt, welches Innovationspotenzial in Kooperation steckt.
Aber nicht nur dafür braucht es neue Formen des Zusammenarbeitens. Die zunehmende Komplexität unserer Welt überfordert Einzelne und Unternehmen. Zunehmend wird klar: Es kann nur gemeinsam gelingen.
Die seit Langem unser Bild von Unternehmen prägende Top-down-Organisation scheint ausgedient zu haben. Neben den hierarchischen Strukturen werden laterale Verbindungen immer bedeutender. Zahlreiche Forscher*innen unterschiedlicher Wissenschaftszweige befassen sich mit diesem Paradigmenwechsel. Der Soziologe Dirk Baecker fasst es so zusammen: Die Strukturform der nächsten Gesellschaft ist nicht mehr die funktionale Differenzierung, sondern das Netzwerk.
Stand-alone-Lösungen kann kaum eine Organisation mehr anbieten. Die Kooperation gleichwertiger Partner*innen gewinnt an Bedeutung und verändert die Logik der Zusammenarbeit. Einer der wichtigsten Wettbewerbsfaktoren in der global vernetzten Wirtschaft ist die gemeinsame Entwicklung und Nutzung von Wissen, um neue Werte zu schaffen.
Mutige Nachhaltigkeitsstrategie:
Über die energieintensive Papierbranche kann seit Langem kaum gesprochen werden, ohne die anhaltenden, wirtschaftlich schwierigen Rahmenbedingungen zu erwähnen. Im Zuge eines Generationenwechsels entscheidet sich die Heinzel Group für eine mutige Nachhaltigkeitsstrategie. Der Papierkonzern will bei der sozialökologischen Transformation bewusst Teil der Lösung sein und entwickelt die Produktion in Richtung Kreislaufwirtschaft. Alleine kann das nicht gelingen. Es geht nur mit starken Beziehungen in der Lieferkette und zu anderen Stakeholdern.
Analog bleibt wichtig
Vernetzung im weitesten Sinne bedeutet heute auch die Vernetzung von digitalen und analogen Wirklichkeiten, beispielsweise im Umgang mit Daten. Um ein Netzwerk gut steuern zu können, sind neue Technologien und Daten wichtig. Andererseits brauchen Menschen Räume für persönlichen Austausch, Reflexion, gemeinsames Nachdenken und Lernen. Nora Bateson spricht in diesem Zusammenhang über warme Daten, die ergänzend zu den quantitativen, kalten Daten eine zusätzliche Dimension des Verstehens anbieten. Wenn wir Denken und Fühlen verbinden, können auch komplexe Kontexte kommuniziert und Herausforderungen gemeistert werden.
Führung, die berührt
Erfolgreiches Wirtschaften ist nicht nur die rationale Lösung von sachlichen Problemen, sondern bedeutet auch die Herstellung eines emotionalen Konsenses. Das braucht Führung, die positiv berührt und Identitätsangebote macht. Es geht dabei immer um Anerkennung, Achtung und die Herstellung von Gerechtigkeit. Partizipation erzeugt einen Resonanzraum, in dem die Menschen gehört werden. Teil der Gemeinschaft zu sein, heißt wahrgenommen werden – in dieser Form realisiert sich heute Zugehörigkeit. Dieses spornt wiederum die Mitarbeiter*innen an, ihr Potenzial in der Organisation zu entfalten. Die Verknüpfung von digitalen und analogen Entwicklungen kann emotionale, soziale und kognitive Nähe herstellen und die Autonomie von lokalen Einheiten stärken.
Housing First: Das Neunerhaus, eine auf private Initiative hin entstandene Non-Profit-Organisation in Wien, hat es geschafft, das Konzept „Housing First“ durch enge Zusammenarbeit mit der Stadtverwaltung, mit Wirtschaftsunternehmen, Interessensvertretungen und NGOs zu etablieren. Die grundlegende Erkenntnis (warm data) war, dass ein regulärer Mietvertrag für obdachlose Menschen die Voraussetzung ist, das eigene Leben in den Griff zu bekommen. Davor galt, dass sich Betroffene zuerst psychisch und sozial stabilisieren müssen und erst als „Belohnung“ ein Dach über dem Kopf erhalten haben. Housing First ist das Ergebnis der Zusammenarbeit von Akteur*innen aus sehr unterschiedlichen Feldern und Logiken, verbunden durch ein tieferes Verständnis der komplexen Situation der Wohnungslosigkeit über Zahlen-Daten-Fakten hinaus. Das Prinzip Housing First wurde 2024 in die Wohnungslosen-Strategie des österreichischen Sozialministeriums übernommen.
Netzwerk, Ökosystem oder Plattform – eine Begriffsklärung
Netzwerke, Ökosysteme, Plattformen sind nicht mehr ganz so neue Formen des Organisierens und im Zuge der Digitalisierung immer häufiger die Praxis.
Bei allen drei Begriffen geht es um das Zusammenwirken von Organisationen (manchmal auch Individuen) in einem gemeinsamen „Feld“. Diese Organisationsformen haben viele Überlappungen, prägen einander, entwickeln sich in- und auseinander, dennoch gibt es ein paar relevante Unterschiede, deren Verständnis hilfreich ist. (Quelle: Jörg Sydow, Caroline Auschra: Netzwerke, Plattformen und Ökosysteme: Organisationstheoretische Klärungen)
Netzwerke sind lockere Organisationsformen, die vor allem dem Erfahrungsaustausch und der Organisation von Innovation oder Lernprozessen dienen oder die in anderer Weise die Kooperation zwischen unterschiedlichen Organisationen stärken. Es gibt gemeinsam formulierte Ziele und es geht um das Erreichen von Wettbewerbsvorteilen, auch wenn man miteinander in Konkurrenz steht. Es gibt relativ klare Grenzen durch gewisse Regeln der Mitgliedschaft und bei strategischen Netzwerken hierarchieähnliche Strukturen (Star Alliance, Toyota).
Ökosysteme haben zwei Spielarten, Entrepreneurial und Business-Ökosysteme. Bei den ersteren ist die Gründung und das Wachstum im Fokus. Business-Ökosysteme sind Partnerschaften, bei denen mehrere Unternehmen, die an sich keine gemeinsamen Ziele haben, zusammenarbeiten, um gemeinsam Produkte oder Dienstleistungen bereitzustellen, die jedes Unternehmen alleine nicht anbieten könnte. Meistens besteht eine informale Abhängigkeit zwischen den Partnern. Beispiel: Partnerschaft zwischen Gebrüder Weiss (Logistik) und IKEA (Möbelhandel) – für Home-Delivery-Kund*innen von Ikea in Österreich, Ungarn, Rumänien, Bulgarien und Kroatien wird die Zustellung auf Elektrotransporter umgestellt. Microsoft funktioniert auch als Business-Ökosystem, während Silicon Valley als ein Beispiel für Entrepreneurial gilt.
Plattformen sind heute fast ausschließlich digital organisiert und vermitteln Transaktionen zwischen Kund*innen und Lieferanten, inkl. Komplementoren (Anbieter ergänzender Dienstleistungen). Plattformbetreiber haben meistens ein profitorientiertes Ziel und wollen den Plattformteilnehmenden kostengünstige Produkte und Dienstleistungen bieten. Zwischen Plattformbetreibenden und Komplementoren werden Kontrolle- und Mitspracherechte ausverhandelt – mit je nach Abhängigkeitsverhältnissen erheblichen Konsequenzen für die Ausgestaltung der Transaktionen. Es gibt meistens starken Wettbewerb zwischen den Komplementoren. Beispiele: UBER, e-bay.
Anita Lung, Harald Lederer
Herzlichen Dank an Martin Obermayr, Director Strategy & Consulting bei Trainconsulting-Netzwerkpartner Netural.
Change Maker Tirol
Wie Change-Management-Wissen eine Community stärkt
Wie kann eine starke Community von Change-Maker*innen entstehen, die aus unterschiedlichsten Organisationen heraus gemeinsam Veränderung vorantreibt? Diese Frage stellten sich die Energieagentur Tirol, das Klimabündnis Tirol und die Tiroler Landesregierung im Rahmen der Initiative „Tirol 2050“ – mit dem Ziel, das Bundesland bis 2050 energieautonom zu machen.
Gemeinsam mit Trainconsulting entwickelten sie das Programm „Change Maker Tirol“ – einen Lehrgang, der nicht nur Change-Management-Kompetenzen vermittelt, sondern gleichzeitig eine aktive Community aufbaut.
Lernen, vernetzen, verändern
Das Programm bringt Change-Maker*innen aus Verwaltung, Wirtschaft und Zivilgesellschaft zusammen, die an der nachhaltigen Energiewende arbeiten. Im Zentrum steht eine dreimodulige Ausbildung (7,5 Tage) in systemischem Change-Management: Methoden, Instrumente und Reflexion der eigenen Rolle stehen im Fokus – mit dem Ziel, eine gemeinsame Sprache und geteilte Herangehensweisen für Transformation zu entwickeln. Pro Durchgang absolvieren 20 Personen das Programm, im Frühjahr 2025 läuft der dritte Durchgang.
Doch der eigentliche Hebel liegt in der Vernetzung: vertrauensbildende Arbeit an Fällen in den Workshops, Peer-Groups, Stammtische und eine jährliche Konferenz stärken den Austausch. Ehemalige Teilnehmende kehren zu neuen Durchgängen zurück und verbinden die Generationen von Change-Maker*innen. So entstehen kurze Wege und ein laufend wachsendes Netzwerk von inzwischen 60 Change-Maker*innen. Viele Absolvent*innen berichten, dass sie im Arbeitsalltag bereits auf diese schnellen Verbindungen zurückgreifen – sei es für fachliche Fragen, Unterstützung oder gemeinsame Projekte.
Das Modell zeigt Wirkung: Andere Bundesländer greifen das Konzept auf und überregionale Programme entstehen – etwa zu nachhaltigem Tourismus oder Mobilität. Change funktioniert nicht allein – sondern in starken Netzwerken mit kurzen Wegen.
Johannes Köpl
Organisationen haben keine echten Grenzen
Kommentar von Stelio Verzera, Gründer von Cocoon pro, Italien und Spanien
In den südeuropäischen Organisationen herrscht eine starke Polarität zwischen dem Wunsch, langsamer zu werden und durchzuatmen, und dem Wunsch nach mehr Tempo im Wandel, hin zu wertvolleren und menschlicheren Organisationen. Ein Mangel an Disziplin im Denken und Forschen sowie die starke Tendenz, jedem neuen Trend im Management-Showbusiness zu folgen, helfen dabei nicht. Das Ökosystem muss noch reifen und tatsächlich langsamer werden, um echten Wandel zu ermöglichen. Es ist der Weg des sowohl-als-auch, der vor uns liegt und der doch unsichtbar ist.
Die größte Herausforderung dabei ist die Haltung „zu beschäftigt zu sein, um sich zu verbessern“. Das ist ein industrielles Produktionsdenken mit einem linearen Verständnis der Aufwand-Ergebnis-Beziehung. Daher gibt es ein geringes Bewusstsein für das Potenzial tiefer Eingriffe. Die meisten Interventionen folgen Trends oder Moden, oder sind oberflächliche, kosmetische Initiativen.
Dabei brauchen alle Menschen und Organisationen Raum zum Atmen, um Sinn zu finden und dadurch zu gedeihen. Unsere Arbeit besteht darin, diesen Raum mit Sorgfalt und Kompetenz zu schaffen und zu halten. Dadurch ermöglichen wir vielen Game-Changern echte Superkräfte zu entwickeln und inmitten von Wandel und Variabilität zu gedeihen.
Das größte Potenzial in Südeuropa liegt in der starken Beziehungskultur dieser Länder, ihrer natürlichen Tendenz zur vollen kreativen Kraft der Menschen und von Beziehungen, die, wenn sie gut kanalisiert werden, der wahre Game-Changer für Organisationen sein können, sowohl intern, als auch in ihren Ökosystemen. Denn Ökosysteme sind lebendige Beziehungsteppiche. Sie machen uns aus, während wir sie gestalten – so einfach ist das. Im Geschäftsleben bedeutet das, anzuerkennen, dass Organisationen keine echten Grenzen haben, sich dieser Erkenntnis zu öffnen, um Wachstum und Evolution zu ermöglichen. Gemeinsam. Ich glaube definitiv, dass Stämme sowohl die Geschichte der Menschheit als auch die Zukunft der Arbeit sind.
Cocoon pro ist ein Beratungsnetzwerk für die Co-Evolution von Organisationen in Italien und Spanien und Kooperationspartner von Trainconsulting.
QUELLEN UND WEITERFÜHRENDE INFORMATIONEN
Cluetrain: https://www.cluetrain.com/
Die Zeit: https://www.zeit.de/2022/29/krisenzeiten-krieg-ukraine-oel-polykrise
S. Zhang, O. Schrader: Systemische Wirksamkeit – Denk- und Handlungsimpulse für Menschen und Organisationen
Warm Data Lab: https://www.warmdatalab.org
Neuenerhaus: https://www.neunerhaus.at/spenden-und-helfen/wohnungslosigkeitbeenden
Researchgate: https://www.researchgate.net/publication/360268667_Netzwerke_Plattformen_und_Okosysteme_Organisationstheoretische_Klarungen