Wohlstand neu denken
Warum das Bruttoinlandsprodukt noch immer im Zentrum der Wohlstandmessung steht.
Ende März 2025 wurde wieder einmal über die Schwächen und Alternativen bzw. Ergänzungen zum Bruttoinlandsprodukt (BIP) diskuiert - an der WU Wien.
Anlass gab der neue Film PURPOSE von Martin Oetting, der die Kritik am Bruttoinlandsprodukt als Leitstern der Politik zusammenfasst und eindrücklich die internationale Lobbyarbeit für Wellbeing Economies zeigt. “Nachdem 2016 so viele politische Erdbeben passiert sind, habe ich genauer hingeguckt und angefangen, zu fragen: Was liegt dahinter? Was funktioniert hier so schlecht? Und je mehr ich gelesen und mit Leuten gesprochen habe, desto mehr habe ich gemerkt: Es geht letztlich immer um die Wirtschaft. Die Wirtschaft scheint das Problem zu sein”, erklärte der Filmemacher seine persönliche Motivation.
Dass es um die Wirtschaft geht, meint auch der Gemeinwohl-Ökonomie Gründer Christian Felber. Aber “This is not Economy!” – Das ist nicht Ökonomie! – lautet der Titel eines seiner Bücher und auch im Festsaal der WU erläuterte er seine scharfe Kritik an der herrschenden Ökonomie, die in Wahrheit gar keine sei. Um die Wirtschaft vom Kopf auf die Füße zu stellen, brauche es eine “Hochzeit aus Bottom-Up und Top-Down”. Durch Bürger*innenbeteiligung soll ein neuer Gemeinwohl-Leitstern für die Wirtschaftspolitik entstehen, denn das BIP messe gar nicht den Wohlstand.
Erstaunlich war für viele Teilnehmende, dass am Podium zu diesem Punkt Einigkeit herrschte.
“Ich bin Ökonom und für mich ist das Ziel des Wirtschaftens das, was bei den Menschen Nutzen stiftet und nichts anderes. Da gehen viele Dinge ein, die wir mit dem BIP nicht messen”, positionierte sich Gabriel Felbermayr, Chef des WIFO. Man solle gemeinsam daran arbeiten, diese Diskussion und dieses Wissen mehr in die Öffentlichkeit und politische Wahrnehmung zu bringen.
Auch Franziska Disslbacher, die am ISSET zu Verteilungsfragen forscht, kann die Fokussierung der Wirtschaftsberichterstattung auf das Bruttoinlandsprodukt nur schwer nachvollziehen. Einen Grund dafür sieht sie darin, dass es den Anschein der Objektivität erweckt, während anderen Indikatoren schnell Normativität unterstellt werde. Außerdem setze es sich immer wieder durch, “weil es einen starken Zusammenhang gibt zwischen jenen, die von BIP-Wachstum tendenziell profitieren und jenen, die sich überhaupt politisches Gehör verschaffen können”, so Disslbacher.
Wie dieses Dilemma überwunden werden kann, darüber waren die Diskutant:innen uneinig.
- Linda Simon, Jugendpartizipations-Profi und Geschäftsführerin von YEP, brach eine Lanze für klar definierte Wirksamkeit von Beteiligungsprozessen: “Es muss im Vorhinein ganz klar sein, wir machen den Prozess, so schaut er aus und diese Wirkung hat der Prozess.” Menschen können sich, unter Hilfestellung von Expert*innen, sehr wohl auch zu komplexen Themen auf realistische Vorschläge einigen. Wichtig sei jedoch, die Anbindung an das politische System gut zu gestalten, da es sonst zu Frustration komme.
- Gabriel Felbermayr zeigte sich skeptisch, einen „Parallelprozess“ zum Parlament zu schaffen. Es sei Aufgabe des Parlaments, Wirtschaftspolitik zu gestalten. Er plädierte dafür, die Gewichtung verschiedener Wohlstandsfaktoren im Rahmen partizipativer Forschung mit Bürger*innen vorzunehmen.
- Dem gegenüber steht der radikaldemokratische Ansatz der Gemeinwohl-Ökonomie, gelosten Bürger*innen das Heft in die Hand zu geben: Felber schlug vor, “dass die fundamentalen Ziele von der Bevölkerung in einem Bürger*innen-Beteiligungsprozess komponiert werden und dann die interdisziplinäre Wissenschaftsgemeinde beauftragt wird, die entsprechende Indikatorik zu entwickeln”. Idealerweise fände sich auch unter den gewählten Repräsentant*innen im Parlament eine Mehrheit, den auf diese Weise entstandenen Gemeinwohl-Index in Gesetze zu gießen. Ansonsten sei eine Volksabstimmung zu der Frage abzuhalten, argumentierte Felber.
Weitere Infos: https://austria.econgood.org/purpose-wohlstand-neu-denken/