Zukunft braucht Dialog
Drei Perspektiven auf Wirtschaften in ungewissen Zeiten.
Marie Ringler, Oliver Holle und Thomas Truttmann – drei versierte Manager*innen, die in ganz unterschiedlichen Organisationen tätig sind: Ringler ist Mitglied der Global Leadership Group der NGO Ashoka, Truttmann ist CEO der Max Felchlin AG und Holle Gründer & Managing Partner von Speedinvest. Claudia Wintersteiger, Transformationsexpertin & Partnerin bei Trainconsulting, hat sie zum Gespräch über Gemeinsamkeiten und Unterschiede eingeladen.
Claudia Wintersteiger: Wie wirken sich die aktuellen wirtschaftlichen und politischen Rahmenbedingungen (z. B. Vorgaben der neuen Regierungen in Österreich, Präsident Trump, Ukrainekrieg, …) auf eure Arbeit aus?
Thomas Truttmann, Felchlin: Ein großer Anteil unserer Produkte wird exportiert; wobei die USA ein bedeutender Teilmarkt sind. Unsere Kund*innen fürchten die Auswirkungen von Zöllen. Wir erleben unsererseits Verunsicherung bei den Mitarbeiter*innen. Dazu kommt eine kulturelle Prägung der Schweizer*innen: Wir mögen Unsicherheit grundsätzlich nicht. Und unsere Partner*innen am Ursprung des Kakaos produzieren in armen Ländern. Sie sind von globalen Destabilisierungen am stärksten betroffen. Für uns bedeutet das, dass wir in alle Partnerschaften der Wertschöpfungskette investieren – sie müssen Bestand haben und Sicherheit geben.
Oliver Holle, Speedinvest: Die USA sind der Leuchtturm in der Venture Szene – und doch dreht sich plötzlich etwas in Europa, sowohl auf der privaten als auch auf der öffentlichen Seite: Es gibt einen Push, mehr in Europa zu investieren, es herrscht Aufbruchsstimmung. Das hat einerseits mit Themen wie dem Klimawandel oder der Verteidigung Europas zu tun. Und andererseits mit dem Wunsch nach Emanzipation in der Venture Szene. Niemand will aktuell in die USA. Das ist eigentlich cool, denn wir brauchen diese positive Energie in Europa. In den letzten fünf Jahren haben wir viel zu viele Topgründer*innen verloren.
Marie Ringler, Ashoka: Wir sind in 99 Ländern tätig – sehr viele davon befinden sich im sogenannten Globalen Süden. Für sie ist Unsicherheitskompetenz und Resilienz immer eine Notwendigkeit, da können wir viel lernen. Und ja, die Kürzungen von USAID sind ein schwerer Schlag für NGOs weltweit. Aber im Kern ist deren Arbeit immer mit Unsicherheit verbunden. Unsere Community ist am besten aufgestellt, um damit umzugehen. Zum Beispiel Dixon Chibanda aus Simbabwe. Er ist einer von fünf Psychiatern in einem Land mit 17 Millionen Menschen. Die fünf können unmöglich alle traumatisierten Menschen des Landes betreuen. Daher hat er die Organisation Friendship Bench gegründet. Das bedeutet, dass hoch angesehene Menschen – das sind in Simbabwe die Großmütter – ausgebildet werden, um Menschen in psychischen Krisen zu begleiten, auf einer Bank im öffentlichen Raum. Das können Social Entrepreneurs: wenn es kein Geld gibt, kreativ sein und unsichtbare Ressourcen mobilisieren.
Wintersteiger: Unter all diesen Rahmenbedingungen erleben viele Führungskräfte Spannungsfelder. Was aus der einen Perspektive richtig ist, kann aus einer anderen völlig falsch sein. Was beispielsweise in der Firma von Führungskräften verlangt wird (z. B. Wachstum) ist zu Hause am Esstisch mit den Kindern (Ausbeutung der Umwelt zum Schaden der nächsten Generation) kaum vertretbar. Wo begegnen euch solche Ambivalenzen und wie geht ihr damit um?
Holle: Die letzten zwei bis drei Jahre waren – getriggert durch die Zinswende – sehr hart. In den Jahren davor waren die Start-ups auf Wachstumskurs und wurden mit (zu) viel Kapital versorgt. Dann plötzlich hieß die Order: „Sorry, aber jetzt geht es um Profit.“ Nun sind die Start-ups profitabel, aber viele wachsen nicht mehr. Allerdings gilt ein Start-up, das sich nicht alle zwei Jahre verdoppelt, als fehlgeschlagen. Es funktioniert in der Logik des Shareholdervalue nicht mehr. Es ist dann kein Start-up mehr, sondern ein KMU. Für die Gründer*innen ist das das Allerhärteste, denn es verändert die Logik in der Organisation extrem.
Wintersteiger: Ja, das ist ein eklatanter Musterwechsel in vielen Start-ups, die ich begleite. Mussten Start-ups bis vor kurzem vor allem den Investor*innen ihren Business Case glaubwürdig – und v.a. die Skalierbarkeit – erklären, um an Geld zu bekommen, so waren sie plötzlich aufgefordert, das „eigene Geld“ am Markt zu verdienen, sprich Fokus auf Sales. Das fordert plötzlich ein ganz anderes Verhalten von allen Playern.
Ringler: Für uns sind diese Spannungsfelder nicht so dramatisch, weil wir als Entrepreneure für Entrepreneure arbeiten. Wir sind es gewohnt, uns Herausforderungen zu stellen. Unsere Fellows sehen ein Problem und wollen es sofort lösen. Deutlich sichtbar wurde das in der Covid-Krise: Die Ashoka Community war schneller in der Lage, Hilfe zu leisten. Ein Beispiel aus Spanien: Fran Díaz ermöglicht es Kindern, Prothesen zu designen, die ihren Bedürfnissen entsprechen, also z. B. am Spielplatz zu schaukeln, und gibt ihnen damit Macht über ihr eigenes Leben zurück. Er hat bei Covid innerhalb von zwei Tagen sein Labor umgestellt und medizinische Instrumente 3D-gedruckt. Dafür braucht es ein anderes Mindset als in der „normalen“ Wirtschaft, nämlich sich die Frage zu stellen: Was kann ich mit meinen Ressourcen für die Gesellschaft tun? Ich halte es nicht für ausgeschlossen, dass die Krisen, die wir gerade erleben, auch eine Chance sind, einige Probleme der Welt zu lösen. Auch, wenn es sich gerade nicht so anfühlt.
Wintersteiger: Ich halte das sogar für wahrscheinlich. Aber es klingt nach sehr unterschiedlichen Ambivalenzen, die eure Branchen zu managen haben. Welche Unterschiede und Spannungsfelder zeigen sich in der Führung von Start-ups, NGOs, von KMU und von großen Unternehmen?
Truttmann: Nach viel Konzernerfahrung leite ich jetzt eine KMU. Und ich habe noch nie in einem Unternehmen gearbeitet, in dem ich so wenig mit Zielkonflikten – zwischen meinen privaten Werten und der Firmenlogik – zu kämpfen hatte. Das ist typisch für ein Familienunternehmen. In großen Unternehmen heißt es schnell einmal „Hey! Polen ist 1,3 Prozent hinter Budget – liefere du das bitte.“ Wir bei Max Felchlin haben den unsäglichen Budgetprozess abgeschafft, das ist Ressourcenverschwendung. Bei uns geht es darum, langfristig die richtigen Entscheidungen zu treffen und keinem inzwischen irrelevant gewordenen Budget nachzurennen.
Wintersteiger: Ich habe Kund*innen, für die Budgetierung ein Jahresthema zu sein scheint. Immer ist Budgetphase. Budget abgeschafft. Darum beneiden dich sicher viele. Empfiehlst du das auch anderen Unternehmen?
Truttmann: Ich möchte mir nicht anmaßen, das börsennotierten Unternehmen zu empfehlen. Wir arbeiten mit einem zwölf Monate rollierenden Forecast. Ich halte es für wichtig, die Leute an der Front zu befähigen und in langfristige Partnerschaften zu investieren. Investitionen müssen sich auszahlen, aber eben nicht kurzfristig. Selbstverständlich müssen auch wir Gewinn machen. Unser Aktionariat ist nicht anspruchslos.
Wintersteiger: Welche Rolle spielen digitale Technologien und KI in euren Bereichen? Und wie seht ihr die diesbezüglichen Regulatorien?
Holle: Es gibt kein anderes Thema mehr als KI – das ist die nächste große Welle. Jährlich machen wir ca. 40 Neuinvestments, 30 bis 35 davon beschäftigen sich mit KI! Darüber hinaus habe ich noch nie so einen Sprung in der Effizienz gesehen – die Produktivitätsgewinne sind enorm und werden massiv unterschätzt. Manche Unternehmen haben bereits ihren gesamten Marketingloop mit Agents automatisiert!
Wer das Rennen gewinnt, ist noch völlig offen. In den US wurde viel investiert, vieles davon ist jetzt überholt – es wurde überinvestiert. Bestehende Start-ups müssen sich völlig neu erfinden. In Europa werden wir im Bereich der KI Fundamentalmodelle nicht gewinnen. Aber die Frage ist, ob dies überhaupt notwendig ist. Wahrscheinlich ist in diesem Bereich kein Geld zu verdienen. Europäische Anbieter wie Mistral können hingegen bei konkreten Anwendungen sehr wohl Mehrwert anbieten – das ist unsere Chance in Europa!
Leider wird bei uns viel zu viel reguliert – das sehe ich als langjähriger Grün-Sympathisant so –, da müssen wir schneller werden und bereit für Kompromisse sein. Und das ist gar nicht so leicht. Das kann ich sagen, weil ich beide Seiten kenne. Wir brauchen weniger Regulierung, eine Entbürokratisierung und trotzdem Datenschutz und Klimaschutz.
Truttmann: Wir entwickeln Use Cases bezüglich Effizienzsteigerungen in der Administration, im Marketing, in der Kommunikation und bei den Finanzen. In der Manufaktur hat die KI noch keinen Einfluss. Natürlich überlegen wir den Einsatz zu Analysezwecken. Dabei gilt es, ultraneue und 100-jährige Maschinen nebeneinander zu managen und Daten erst einmal strukturiert zu erfassen.
Ein Gedanke zu Europa: Die Überregulierung ist wohl ein Grund, warum die Schweiz nicht Teil der EU ist. Europa muss sich neu erfinden und Strukturen bauen, mit denen man einfach schneller und näher beim Menschen ist. Es geht um das Prinzip der möglichst dezentralen Entscheidung.
Ringler: KI ist Teil unseres Alltags. Wir haben ein internes AI-Lab und nutzen es zur Effizienzsteigerung, zum Benchmarking, bei der Auswahl von Social Entrepreneurs. Aber interessanter ist die Frage: Wie, für wen, und mit wem gestalten wir diese neue Welt? Das ist keine Frage der Regulierung, sondern eine der Haltung und der Werte. Geht es um den persönlichen Profit eines/einer Einzelnen oder wirtschaften wir für das Gemeinwohl? Wir haben zum Beispiel eine kanadische Social Entrepreneurin aus der Papierbranche, Nicole Rycroft, der es gelungen ist, 950 Unternehmen an Bord zu holen, um deren Verpackungsmaterialien zu verändern. Das Ziel der Initiative ist der Schutz der Wälder – und nicht, reich zu werden, sondern den Ressourcenverbrauch zu reduzieren. Natürlich braucht es dazu auch das gemeinsame Wollen. Wir leben in einer Welt, in der gierig sein in Ordnung ist. Daher brauchen wir Beispiele, die zeigen, dass Gier nicht in Ordnung ist, auch nicht für den wirtschaftlichen Erfolg. Es geht um eine Arbeit an der Haltung.
Wintersteiger: Sind Haltung und wirtschaftlicher Erfolg ein Widerspruch?
Holle: Das ist ein interessantes Spannungsfeld. Start-ups müssen wachsen, um erfolgreich zu sein. Das ist in gewisser Weise Gier und unromantisch, aber auch sehr beeindruckend. Wir haben ein Unicorn in Nigeria. Es unterstützt Taxifahrer*innen dabei, ihr eigenes Taxi zu besitzen – mittlerweile sind das mehr als 150.000 Unternehmer*innen. Der positive Impact ist enorm. Die Gründer, zwei Elitekids, wollen in zwei Jahren an die Börse gehen – und das in einem knallharten Geschäft. In solchen Fällen sieht man, dass Social Entrepreneurship und Impact immer mehr zusammenkommen. Und dass die Beurteilung „gut oder schlecht“ zu sehr verkürzt – es zählt der Impact. Und zur Haltung: Das sind nicht immer gute Menschen, sie wollen schlicht erfolgreich sein.
Ringler: Wir müssen über unsere gesellschaftliche Definition von Erfolg sprechen. Heute ist das „Power, Position, Profit“, statt ein Beitrag zu einem guten Leben für alle.
Wintersteiger: Dass wir das Thema Rüstung neu bewerten müssen, hätte ich mir im Vorjahr noch nicht gedacht. Diese Zielkonflikte müssen angesprochen und unterschiedliche Perspektiven abgewogen werden.
Ringler: Das ist der Grund, warum es das European Forum Alpbach braucht. Dieses Jahr spielt Verteidigung eine zentrale Rolle, aber der Klimaschutz bleibt ein essenzielles Thema, denn der interessiert sich nicht für Krieg. Und für die Klimawende brauchen wir alle gesellschaftlichen Akteure, und vor allem das Gespräch zwischen den Generationen.
Truttmann: Es geht um ein „sowohl als auch“, um Klima und Verteidigung; und um die Diskussion der Prioritäten, wie in einem Staatsbudget die Akzente gesetzt werden.
Holle: Ein gutes Beispiel für Innovation sind Drohnen der nächsten Generation – sie sind in der Ukraine sehr erfolgreich, haben aber auch viele zivile Anwendungsfälle. Am Beispiel der Klimapolitik hat man gesehen, dass eine rein regulativ motivierte EU nicht hilfreich gewesen ist. Da gibt es harte Konfliktlinien, die wir uns zum Teil nicht eingestehen. Ich verbringe viel Zeit in Dubai, dort sagt man: „The Problem of Europe is Europe.“
Wintersteiger: Wenn wir vier – als Vertreter*innen verschiedener Perspektiven – heute eine Idee entwickeln, die morgen einen nachhaltigen Unterschied macht, was könnte das sein?
Holle: Es braucht genau solche Dialoge, in konzentrischen Kreisen. Es fängt mit einem Kern von vertrauensvollen Menschen an, und dann geht es weiter. Mein Job ist es, Gründer*innen auszusuchen – da achte ich auf Aktionsorientierung und die Fähigkeit zuzuhören. Gründer*innen, die nur senden – das wird nicht funktionieren! Gute erfolgreiche Unternehmer*innen können zuhören.
Truttmann: Es geht um das Zuhören im unmittelbaren Umfeld; den Punkt, die Lage, die Haltung des/der anderen zu verstehen.
Ringler: Es braucht „Changemaker Companies“, die Wirtschaft und den Beitrag zur Gesellschaft zusammenbringen. Davon profitieren beide Seiten. Wichtig ist, Menschen mit unterschiedlichen Perspektiven zusammen- und dann ins Tun zu bringen. Wir alle haben unglaubliches Potenzial, aber auch die Verpflichtung, etwas Gutes zu tun.
Wintersteiger: Ich stimme euch zu: Der Dialog ist der Anfang aller guten Lösungen. Meine Tochter hat in der Schule gerade das Fach Debatte. Sicher wichtig. Ich schau mir das aber genau an und hoffe, dass demnächst Fragen stellen und Dialog am Lehrplan steht. Damit auch die nächsten Generationen so schöne Dialoge mit unterschiedlichen Perspektiven führen können, wie wir heute.
DIE GESPRÄCHSPARTNER*INNEN
Marie Ringler – Mitglied der Global Leadership Group und Europa Chefin, Ashoka
Marie Ringler leitet das europäische Netzwerk von Ashoka, der weltweit größten Organisation zur Förderung von Sozialunternehmer*innen. Ihr Fokus liegt auf systemischem Wandel, sozialer Innovation und der Frage, wie Wirtschaft und Gesellschaft Transformation gemeinsam gestalten können. Sie ist auch Vizepräsidentin des Forum Alpbach.
Thomas Truttmann – CEO Max Felchlin AG
Thomas Truttmann leitet das managementgeführte Familienunternehmen Max Felchlin AG, ein global tätiges Unternehmen für qualitativ hochwertige Schokolade-Kuvertüren und nachhaltige Kakao-Lieferketten. Er begleitet die unaufgeregte Transformation des Unternehmens, indem er Tradition und Innovation verbindet und sich für zukunftsfähige Wirtschaftsmodelle einsetzt. Das Unternehmen hat 196 Mitarbeiter*innen.
Oliver Holle – Gründer & Managing Partner Speedinvest
Als einer der einflussreichsten Investoren im europäischen Tech-Ökosystem hat Oliver Holle mit Speedinvest hunderten Start-ups zum Wachstum verholfen. Er bringt seine Perspektive auf Transformation als Investor ein – von disruptiven Technologien bis hin zu nachhaltigen Unternehmensmodellen.
Claudia Wintersteiger – Transformationsexpertin & Partnerin bei Trainconsulting
Claudia Wintersteiger begleitet Unternehmen in tiefgreifenden Veränderungsprozessen, mit einem Fokus auf die Wechselwirkung zwischen Strategie, Struktur und Kultur. Als systemische Organisationsberaterin unterstützt sie Führungskräfte dabei, Transformation nicht nur als Notwendigkeit, sondern als Chance zur Zukunftsgestaltung zu begreifen.